Altensteiger Vokalensemble

Du hörst mein Schreien

Schrei (Bild von Leonie Dlugoszek, 2010)

(Bild: Leonie Dlugoszek, 2010)

Was verbirgt sich hinter dem Titel?

Nicht selten werden Menschen hineingerissen in leidvolle Grenzerfahrungen menschlichen Lebens aus denen die Frage nach der Sinnhaftigkeit und dem „Warum?“ ertönt.
Häufig herrscht das Vorort- und Stadtrandschweigen angesichts des Leids. Der Schmerz wird aus der Öffentlichkeit verbannt.. Der am 21. August 2010 am Krebs verstorbene Christoph Schlingensief schreibt dazu in seiner „Kirche der Angst“: <<Ja, zeig mal deine Wunde. Wer seine Wunden zeigt, wird geheilt. Wer sie verbirgt, wird nicht geheilt.>> 

Warum ist die Klage fremd geworden?

Selten ertönt die Gottesklage. Das wundert angesichts persönlicher und allgegenwärtiger Leiderfahrungen rund um den Globus und innerhalb des eigenen Lebens! Ist es kein Bedürfnis mehr vor Gott zu klagen, ihn in einen Rechtsstreit zu ziehen? Versperrt man sich dadurch nicht einen möglichen Fluchtweg ins Leben angesichts von Krankheit, Trauer und Tod? Befindet sich die Klagetheologie in der westlichen Welt auf einem Abstellgleis? Wo ist die verständliche Wut geblieben?

Das Konzert will dieses Schweigen brechen, in Tönen und Texten mit und gegen Gott klagen.
Dabei fällt auf, dass es die Sprache der jüdisch-christlichen Religion ist, die fremd geworden zu sein scheint, so als sei dieser liebe Gott zu gut, zu verantwortungsfrei, als dass er in das Geschehen eingreifen könne.

Welche Tiefe des Zweifels und der Anfechtung lässt dagegen das Alte Testament zu, wenn ein solches Wort – wie die Klage der Psalmbeter oder die Anklagen des Hiob – weitergibt – Späteren nachsprechbar und nachvollziehbar macht. Menschen kommen darin zu Wort, die unter dem Schmerz aufschreien. Sie sind von abgrundtiefer Verzweiflung und überzeugter Hoffnung geprägt. 
Psalmtexte wurden aufgeschrieben, damit sie in ähnlichen Situationen nachgesprochen werden können, die im Auf und Ab des Lebens so auch für schwere Erfahrungen hilfreiche Sprache sein können. Der Mensch kann mit den Psalmen das Bittere in Worte fassen, Erlittenes, die Nöte des Daseins, Enttäuschung, Angst und den Zweifel von Gott  verlassen zu sein.
 
Im Neuen Testament scheint die Klage eine schlechte Presse zu haben. Vielmehr finden sich hier Lobgesänge, Hymnen. Einer davon sei Teil des Konzerts. Der Lobgesang Mariens, das Magnificat, wird in der Erfahrung geboren, dass Gott hört, dass dieser Gott sieht und sich den Menschen zuneigt. „Denn er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen.“
Steht jedoch mit ausbleibender Klage nicht eine vitale Gottesbeziehung auf dem Spiel? Man kann Gott verantwortungsfrei lassen, so als habe er mit leidvollem Geschehen nichts zu tun. Gott bleibt eigenartig unbeansprucht.
Die Klage über das Schicksal und die Erfahrung der Verlorenheit lässt sich in die (An-) Klage zu Gott hineinnehmen, so dass sie nicht aus dem Glauben herausfällt.. In der Erfahrung der Abwesenheit und Ferne Gottes bewahrt sie in der Anrede, im „Du“, das unausgesprochene Vertrauen. Ist das Dunkle nicht völlig, nicht nur dunkel, weil dieses „Du“ bleibt. So erklärt sich die Wahl des Konzertitels: „Du hörst mein Schreien“ macht auf eine Beziehungen zwischen Personen aufmerksam, die in einem vertrauensvollen  Verhältnis stehen. In der Anrede artikuliert sich die Erfahrung, dass dieser Gott Helfer und Beistand in der Not ist. >>Denn er hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen.>>
In diesem Sinne wünschen wir unseren Zuhörern wünschen wir unseren Zuhörern ein bewegendes Hören und Sehen,
<<Siehe, der Hüter Israels schläft noch schlummert nicht.>> 

Wolfgang Weible

Zu einzelnen Aspekten der Einführung vergleiche: Martin Ebner, W. H. Schmidt et al. (Hgg.), Klage, in: Jahrbuch für Biblische Theologie, Neukirchener Verlag, Neukirchen-Vluyn, 2001!


Zu einzelnen Komponisten und Werken

Albert Ernst Anton Becker

Am 13. Juni 1834 in Quedlinburg geboren; er verstarb am 1o. Januar 1899 in Berlin. Er war ein deutscher Komponist der Romantik, Professor und Kompositionslehrer an der Akademie der Künste in Berlin. 1889 übernahm Becker die Leitung des Königlichen Domchores in Berlin. Im Jahr 1892 lehnte er es auf Wunsch des Kaisers ab, in Leipzig Wilhelm Rusts Nachfolge als Thomaskantor anzutreten. Becker ist der Großvater des Komponisten Günther Raphael.

Johannes Brahms (1833-1897)

Warum ist das Licht gegeben

Die Motette „Warum ist das Licht gegeben“ (op. 74 Nr. 1) bot Brahms die Möglichkeit einer persönlichen und dramatischeren musikalischen Gestaltung als in der Vorlage einer unveröffentlichten Messe in C- Dur, auf deren musikalisches Material Brahms bei der Vertonung zurückgriff und sie mit Texten des Hiobbuches, der Klagelieder Jeremiä, des Jakobusbriefes und eines Lutherliedes („Mit Fried und Freud“) verband.
Die ersten beiden Teile sind von einem imitatorischen Gestus geprägt. Die in Quinten gestaffelten Einsätze des aufsteigenden Themas „Warum ist das Licht gegeben“, entbehren der Tonalität und vermitteln ein Gefühl der Leere. Sie spiegeln die im Text aufgeführte Hoffnungslosigkeit der klagenden Hiobgestalt (vgl. Hiob 3) vor Ohren.
Der seelische Wandlungsprozess von Hiobs Verzweiflung, der dem Leben keinen Sinn mehr abzugewinnen vermag, hin zur Akzeptanz des Todes als Belohnung für Geduld, die im vorletzten Teil gepriesen wird, wird zur musikdramaturgischen Quelle.
Im Abschnitt „Lasset uns unser Herz samt unser Herz“ ist die Melodie gleichsam aufsteigend gestaltet – ein bildhafter Aspekt tritt erkennbar hinzu. Das Thema wird auch hier von den anderen Stimmen imitiert.
Neben der kontrapunktischen Technik sei noch auf den Schlusschoral verwiesen. Mit diesem greift Brahms Bachsche Prinzipien der Harmonisierung auf und verbindet diese effektvoll mit seinem eigenen Stil. Es scheint als wolle Brahms sein Gefühl der Verpflichtung gegenüber dem Leipziger Thomaskantor zum Ausdruck bringen.